Das Stabat Mater und die Musik
Wie geht der Plural von Stabat Mater? Stabant Matres? Das funktioniert wohl nicht. Das ist eben das Problem mit diesen Textanfängen, die zu Titeln geworden sind. Die antike Tradition hat sich im Mittelalter munter fortgesetzt. Wie kann man also im Plural von Werken sprechen, die dieses mittelalterliche Gedicht vertonen? Ich plädiere am ehesten für Stabat Mater-Vertonungen.
Sie sind zahlreich und unter ihren Verfassern tauchen die Namen berühmter Komponisten auf.
Ich möchte mich hier auf eine Auswahl von den folgenden Komponisten beschränken, die mir wichtig ist:
- Giovanni Felice Sances
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Alessandro Scarlatti
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Antonio Vivaldi
- DAS Stabat Mater von Giambattista Pergolesi
- Joseph Haydn
- Gioachino Rossini
- Antonin Dvorak
Die Werke umspannen einen Zeitraum von ungefähr 250 Jahren und gehören sehr verschiedenen Stilrichtungen an, vom Frühbarock bis hoch in die Romantik des 19. Jahrhunderts. Auch von der Besetzung und der Länge her bieten sie ein breites Spektrum - von einem Sänger mit einigen Musikern als Begleitung bis zur Besetzung eines großen Oratoriums mit Solisten, Chor und großem Orchester, von einer Dauer von ungefähr 10 bis zu 90 Minuten.
I. Giovanni felice sances: solomotette
für Cantus und basso continuo.
Sie besteht aus einer Passacaglia, also einer sich wiederholenden Tonfolge, die von Rezitativen durchbrochen ist. Hier wird bereits der passus duriusculus, eine absteigende chromatische Tonfolge, die in der Musik als Zeichen besonders tiefer Trauer verwendet wird, eingesetzt. (Vgl. dazu Purcells 'Lament of Dido')
Giovanni Felice Sances (um 1600 - 1679) war ein römischer Sänger und Komponist, der ab 1636 an der Wiener Hofmusikkapelle tätig war.
Zwei Aufnahmen stehen auf youtube zur Verfügung:
Mit Nuria Rial und Christina Pluhars 'Arpeggiata':
https://www.youtube.com/watch?v=OC0ETAixoP8
und mit Philippe Jaroussky und dem Ensemble Artaserse: https://www.youtube.com/watch?v=Zq2yvUb28ck
II. Alessandro Scarlatti (1724), Neapel
Alessandro Scarlatti (1660 - 1725) schrieb sein 'Stabat Mater' für die Cavalieri della vergine dei dolori, eine Laienbruderschaft in Neapel. Da die Cavalieri über beschränkte Mittel verfügten, ist das Werk für eine kleine Besetzung, Sopran und Alt sowie zwei Violinen und Basso Continuo, komponiert.
Das Werk ist in 18 Abschnitte gegliedert, die jeweils von einem Duett eingerahmt werden. Es endet mit einem Duett - einem einleitenden Adagio (quando corpus morietur) mit einem hellen Dur-Schluss und einer strahlenden Amen-Fuge.
Scarlatti setzt hier - typisch für sein Werk - immer wieder expressive Chromatik, Dissonanzen und die typischen neapolitanischen Engführungen sowie starke rhythmische Akzente ein, um wunderbar expressiv die starken Emotionen des Textes umzusetzen.
Aufführungsdauer: ca 40 Minuten
Eine wunderbare Aufnahme mit Gemma Bertagnoli, Sara Mingardo und dem Concerto Italiano unter Rinaldo Alessandrini: https://www.youtube.com/watch?v=uFjxmHqNtyA
ebenso schön mit Roberta Invernizzi, Sara Mingardo und der Capella Neapolitana unter Antonio Florio: https://www.youtube.com/watch?v=vJ526kH_ZL4
III. Antonio Vivaldi (1712), Brescia
Der prete rosso, der rote Priester, schrieb sein 'Stabat Mater' nicht für seine Schützlinge im Ospedale della Pietà, sondern für die Confederazione dell'oratorio di San Filippo Neri in Brescia. Es wurde vermutlich am 18. März 1712 in Santa Maria della pace, der Kirche der Kongregation uraufgeführt.
Vivaldi verwendete nur die ersten zehn Strophen des Textes (bis 'fac, ut ardeat cor meum in amando Christum Deum, ut sibi complaceam') .
Das Werk ist für ein kleines Ensemble von vier Geigen, Cello, Kontrabass und Orgel und Altstimme - einen Kastraten oder Falsettisten - konzipiert und dauert knappe 20 Minuten.
Informationen von: Vivaldi Pietà - sacred works for alto - Philippe Jaroussky/Ensemble Artaserse. - eine wunderbare CD.
Ebenfalls sehr schön: Andreas Scholl, Chiara Banchini und Ensemble 415: https://www.youtube.com/watch?v=n71JvW4E9Xw
IV. Giambattista Pergolesi (1736), Neapel
Pergolesis 'Stabat Mater' ist wohl DAS 'Stabat Mater' schlechthin. Das tragische Schicksal des jungen Komponisten - er schrieb, 26-jährig und an Tuberkulose leidend, mit dem Tod um die Wette - als auch das Werk selbst machen bis heute einen tiefen Eindruck auf Interpreten und Zuhörer.
Die Cavalieri della vergine dei dolori in Neapel ließen das 'Stabat Mater' jedes Jahr in der Fastenzeit aufführen. Als sie nach mehr als einem Jahrzehnt die Version von Alessandro Scarlatti als etwas altmodisch empfanden und sich nach einer Neuvertonung umsahen, fiel ihre Wahl auf den jungen Giambattista Pergolesi. Es würde sein Schwanengesang werden und Weltruhm erlangen.
Das Werk ist, wie der Vorgänger von Scarlatti, für Sopran, Alt und eine kleine instrumentale Besetzung komponiert und in 12 Abschnitte gegliedert, von denen sieben Duette, zwei Sopranarien und drei Altarien sind. Strahlender Höhepunkt in der Mitte ist eine groß angelegte Fuge zu 'fac, ut ardeat cor meum' . Das Werk endet nach einem langsamen, kontemplativen 'Quando corpus morietur' in einer strahlenden Amen-Fuge.
Neapolitanische Engführung, nicht nur im ergreifenden Eingangsduett, Chromatik und dazu die eingängigen Melodien des sogenannten galanten Stils, den Pergolesi hier aus der Oper in die Kirchenmusik übernimmt, eine reich variierte Bandbreite in der Gestaltung der einzelnen Teile machten das Werk sofort berühmt..
Das Werk trat sogleich einen Siegeszug durch ganz Europa an. Es bietet eine breite Palette von Möglichkeiten in der Aufführung: von zwei SängerInnen und einem Streichquartett mit Orgel bis zu einer Gestaltung mit Streichorchester und Chor. Die Nummern 1. Stabat mater, 3. O quam tristis, 5. Quis est homo), die große Mittelfuge (fac ut ardeat cor meum), und der Schulßteil (Quando corpus morietur und Amenfuge) können ad libitum auch mit einem Chor gestaltet werden.
Es wurde immer wieder bearbeitet, z.B. von Antonio Salieri und Franz Xaver Süßmayer mit reicherer Instrumentierung und Chor.
Johann Sebastian Bach gestaltete es zu einer Kantate, 'Tilge, Höchster meine Sünden' (BWV 1083) um. Der Text ist eine deutsche Nachdichtung von Psalm 51.
Unter den zahlreichen Aufnahmen, die man auf youtube findet, möchte ich folgende besonders hevorheben:
Mit Emöke Barath und Philippe Jaroussky unter der Leitung von Natalie Stutzmann, Ensemble Orfeo 55:https://www.youtube.com/watch?v=qzOmPUu-F_M&list=RDqzOmPUu-F_M&start_radio=1&t=8
oder mit Sabina Puertolas und Vivica Genaux und Les Talens Lyriques unter der Leitung von Philippe Rousset: https://www.youtube.com/watch?v=FjJ02agjjdo
V. Joseph Haydn (1767), Wien
Haydns 'Stabat Mater' ist das erste kirchenmusikalische Werk, das der Komponist im Dienste des Fürsten Esterhazy schrieb. Es wurde erstmals öffentlich in Wien am 25. März 1768 in der Kirche der Barmherzigen Brüder aufgeführt. Das Werk erfreute sich in den folgenden Jahren großer Beliebtheit.
Haydns 'Stabat Mater' ist für ein Soloquartett, Chor und Orchester konzipiert und in dreizehn Abschnitte mit verschiedenen Besetzungen gegliedert, von denen der erste und der letzte jeweils von einem Solisten (Tenor bzw. Sopran) und dem Chor ausgeführt werden. Ferner gibt es ein Stück für das Soloquartett und den Chor, zwei reine Chornummern, ein Duett (Sopran und Tenor) sowie sieben Soloarien.
In diesem Werk - wie auch in anderen des Meisters wie z. B. seinen 'Sieben letzten Worten Jesu am Kreuz' - ist die Stimmung durchaus nicht düster, sondern stellt den Opfertod Christi und die Möglichkeit des Mitleidens als göttlichen Gnadenerweis dar. Das Werk schließt mit einer strahlenden Fuge, die auf paradisi gloria, den Glanz des Paradieses, hinweist.
Aufführungsdauer: 1 Stunde
auf youtube: Trevor Pinnock und The English Concert & Choir: https://www.youtube.com/watch?v=EwDOsrcFqkI
VI. Gioachino Rossini (1832/42), Madrid, Paris
Rossinis 'Stabat Mater' hat eine eigenartige Geschichte. Der Komponist erhielt den Auftrag dafür zu einer Zeit, als er sich vom Komponieren zurückgezogen hatte. Als allerdings ein hoher spanischer Prälat bei ihm ein 'Stabat Mater' bestellte, konnte er nicht ablehnen, doch die Komposition ging nicht recht weiter und schließlich wurde das 'Stabat Mater' 1832 auf Drängen des Auftraggebers mit sechs von Rossinis Schüler Giovanni Tadolini komponierten Teilen uraufgeführt.
Jahre später, nach dem Tod des Auftraggebers, gelangte das Manuskript gegen Rossinis Intention in die Hände eines Verlegers. Um eine Veröffentlichung des Werkes in dieser Form zu verhindern, überarbeitete Rossini es gründlich und ersetzte Tadolinis Teile durch seine eigenen Kompositionen.
Das Werk wurde in der neuen Form 1842 in Paris uraufgeführt und später in Bologna unter dem Dirigat von Gaetano Donizetti einem begeisterten italienischen Publikum präsentiert.
Auch hier begegnet uns wieder der passus duriusculus gleich am Anfang, allerdings eingebettet in eine Musik, die stark von Rossinis Opernschaffen geprägt ist. Besonders deutlich wird das in der opernhaften Tenorarie 'Cuius animam gementem'. Dass Rossini auch Kirchenmusik durchaus studiert hat, beweist er in der großartigen Amenfuge, mit der das Werk endet.
Das Werk dauert ungefähr eine Stunde und ist für vier Solisten, Chor und Orchester.
Interessante Informationen dazu: https://www.vaticannews.va/de/welt/news/2018-11/stabat-mater-gioachino-rossini-todestag.html
Von der Kritik besonders gelobt wird die Interpretation von Antonio Pappano und der Accademia di S. Cecilia s.https://www.youtube.com/watch?v=dJobIzO4uZM youtube:
Vii. Antonin Dvorak (1877)
Antonin Dvoraks 'Stabat Mater' steht besonders eng in Zusammenhang mit dem Verlust von Kindern, hat er doch selbst in der Zeit, in der das Werk entstand, drei Kinder verloren. Ein Töchterchen starb kurz nach der Geburt, ein anderes an einer Vergiftung, ein Söhnchen an den Pocken. So waren er und seine Frau Anna nach vier Jahren Ehe kinderlos. Die sechs Kinder, die in den folgenden zehn Jahren geboren wurden, erreichten allerdings alle das Erwachsenenalter.
Hier können wir die persönliche Tragödie dieses Verlustes verfolgen, doch wie muss das für Alessandro Scarlatti gewesen sein, von dessen zahlreicher Kinderschar nur drei das Erwachsenenalter erreichten?
Dvoraks Werk ist für vier Solisten, Chor und großes, romantisches Orchester komponiert und dauert ungefähr eineinhalb Stunden. Es besteht aus 10 Teilen.
Es beginnt mit einer Orchestereinleitung mit leeren Oktavklängen in fis, dem ersten Kreuz. Auch hier begegnet uns die chromatisch absteigende Linie des passus duriusculus wieder. Im ersten und letzten Teil singen sich Chor und Solostimmen jeweils zu. Der zweite Teil (quis est homo) ist dem Soloquartett vorbehalten. Die Teile 3 (eia mater), 5 (tui nati vulnerati) und 7 (virgo virginum praeclara) werden vom Chor gestaltet, Teil 4 (fac, ut ardeat cor meum) vom Solobass und dem Chor, Teil 6 (fac me vere tecum flere) vom Solotenor und dem Männerchor. Teil 8 ist ein Duett zwischen Solosopran und Solotenor. Daran schließ sich eine Altarie (Inflammatus).
Bemerkenswert scheint mir besonders der schwingende Sechsachteltakt im Teil 5 (tui nati vulnerati) - eine wiegende rhythmische Form, die sich häufig in Weihnachtsmusik findet - und im Eingangsteil der Matthäuspassion. So schließt sich der Kreis. Die Mutter, die ihr Kind tröstend wiegt. Sehr eindrucksvoll ist auch das einfache, Kinderlied-hafte fac me vere tecum flere, das vom Solotenoer vorgesungen wird und sich kunstvoll unter Einbeziehung des Männerchores steigert.
Der Schlussteil (quando corpus morietur) beginnt mit dem Soloquartett, zu dem sich der Chor gesellt, um sich mit dem ganzen Orchester zu einem strahlenden paradisi gloria. Amen zu steigern, einen Augenblick in dem a-capella-Einschub (quando corpus morietur) bei der Bitte um das Paradies innezuhalten und dann leiser werdend zu verklingen.
Als Beispiel habe ich hier eine Aufnahme mit Luba Orgonásová, Elisabeth Kulman, Saimir Pirgu undRoben Drole, dem Schönbergchor und dem Chamber Orchestra of Europe unter der Leitung von Nikolaus Harnoncourt gewählt:
https://www.youtube.com/watch?v=h1m4a0c6VUU
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