Stabat mater
das wirkmächtigste Passionsgedicht des Mittelalters
Das Stabat mater, in der antiken Titeltradition mit den ersten beiden Worten des Textes zitiert, ist zweifellos einer der nichtbiblischen religiösen Texte, die die größte Nachwirkung gezeigt haben.
Dieses Gedicht aus dem 13. Jahrhundert steht im Zeichen einer neuen Form der Frömmigkeit, die durch Franz von Assisi und die Orden in seiner Nachfolge geprägt wurde. Einzelne Szenen aus der Bibel – hier das Leiden Marias neben dem Kreuz ihres Sohnes – werden zum Gegenstand der Betrachtung und Reflexion, einem In-Beziehung-Setzen mit den eigenen Gefühlen, einem Mit-Leiden.
Marienverehrung
Die Darstellung von Maria, der Mutter Jesu, geht vor allem auf den Evangelisten Lukas zurück. Er berichtet über die annuntiatio, die Verkündigung durch den Erzengel Gabriel, die visitatio, den Besuch Marias bei Elisabeth, der Mutter Johannes des Täufers, die Geburt Jesu und den zwölfjährigen Jesus im Tempel. Diese literarische Darstellung Mariens hat dazu geführt, dass Lukas in der Kunst immer wieder mit einem Portrait Marias gezeigt wird.
Ein bedeutender Schritt in der Entwicklung der Marienverehrung wurde beim Konzil von Ephesos 431 gemacht, als Maria zur Theotokos, lateinische Dei genetrix oder deipara, also zur Mutter Gottes erklärt wurde. Dieser für uns so selbstverständliche Ausdruck ist es keineswegs, stammt er doch aus der heftig geführten Diskussion des frühen Christentums um die Göttlichkeit Jesu.
Contemplatio und Compassio
Betrachtung und Mitfühlen. Ich habe das eigentlich nur auf Englisch übliche Wort aus klanglichen Gründen gewählt. Das griechische ‚Empathie‘ ist sicher geläufiger. Die Praxis, über einer Szene, einem Bild aus der Leidensgeschichte zu meditieren, geht auf Franz von Assisi und die Orden in seiner Nachfolge zurück. Sie steht im Gegensatz zur verstandesbetonten, scholastischen Philosophie der Dominikaner und des Thomas von Aquin.
Pietà
Die elementarste aller Beziehungen, die zwischen Mutter und Sohn, bot dazu in der Extremsituation der Kreuzigung Christi einen ganz besonderen Anlass. Neben den Darstellungen der Gottesmutter unter dem Kreuz - meist gemeinsam mit dem Lieblingsjünger Johannes (Jesus übergibt ja im Johannesevangelium seine Mutter der Obhut seines LIeblingsjüngers) - hat vor allem die Darstellung der Gottesmutter mit dem toten Sohn auf dem Schoß als sogenannte Pietà Eingang in die Kunst gefunden.
Identifikation mit dem Leiden
In Zeiten, in denen Menschen sehr viel eher mit dem Verlust ihrer liebsten und nächsten Angehörigen durch Krankheit und Krieg rechnen mussten, waren Wunsch und Bereitschaft zur gefühlsmäßigen Identifikation in hohem Maße gegeben. Der mit den Menschen mit-leidende Christus, der Leiden und Tod um der Menschen willen auf sich nimmt, und seine Mutter, die in der Größe ihres Leidens eine verständnisvolle Fürsprecherin für die Menschen in ihrem Leid darstellen kann, sind im Christentum einmalige Identifikationsfiguren für jede/n einzelne/n Gläubige/n. Jesus Christus, 'unser Herr und Bruder', und Maria, die Mutter Jesu, die Mutter Gottes, Fürsprecherin bei ihrem Sohn, sind wirkmächtige Bilder vor allem im katholischen Christentum.
Urheberschaft und Verwendung des Gedichts
Es ist nicht geklärt, wer der Verfasser ist. Das Gedicht wird - neben anderen - Jacopone da Todi (1240-1306), einem Franziskaner aus Umbrien, zugeschrieben. Als mögliche Verfasser werden auch Bonaventura (1221-1274), ein bedeutender franziskanischer Mystiker, und Papst Innozenz III. (1160/61-1216) genannt.
Das Gedicht war ursprünglich zur persönlichen Meditation bestimmt. Derartige Reimgebete findet man in den sogenannten Stundenbüchern. Es kam im 16. Jahrhundert als Sequenz ins Missale Romanum, wurde aber zusammen mit vielen anderen Sequenzen beim Konzil von Trient entfernt, um 1727 mit dem Fest der sieben Schmerzen Mariens am Freitag nach dem Passionssonntag, also vor dem Palmsonntag, wieder eingeführt zu werden. Dieses Fest wurde durch die Liturgiereform des 2. Vatikanischen Konzils wieder abgeschafft. Heute kann das Stabat Mater als liturgisches Stück nur noch am 15. September, dem Gedächtnis der Schmerzen Marias, verwendet werden.
Die Form
Das Gedicht besteht aus zehn Strophen aus jeweils vierhebigen Trochäen, die sechszeilig mit einem Reimschema aabccb gestaltet sind.
Der Dichter geht aus von der Erwähnung Marias unter dem Kreuz im Johannes-evangelium (Joh. 19,25). Die mater dolorosa, die Schmerzensmutter wird als Gegenpart zu Jesus als vir dolorum, dem Schmerzensmann (Isaias 53,3) dargestellt. Das Bild des Schwertes, das Maria durchdringt, geht auf die Prophezeiung des Simeon bei der Beschneidung Jesu zurück (Lukas 35).
Die erste Strophe stellt die Situation während der Kreuzigung dar: Maria steht weinend neben dem Kreuz, an dem ihr Sohn hängt. Der Schmerz durchdringt sie wie ein Schwert. Die zweite Strophe ist ein Ausruf, in dem ihr Schmerz geschildert wird. Dann folgt die rhetorische Frage, wer in dieser Situation nicht mir ihr trauern würde – eine allgemeine Aufforderung zum Mitleiden. Die vierte Strophe geht wieder in Marias Perspektive zurück: sie sieht den Sohn, der für ihr/sein Volk leidet, verlassen sterben.
An diesem emotionalen Höhepunkt erfolgt die Umkehr: Der Dichter (oder korrekter sein poetisches Ich) redet Maria an. In den folgenden Strophen bittet er sie, ihn an ihrem Scherz teilnehmen zu lassen.
Sprachliche Gestaltung
Aus Christi Leiden und Sterben heraus entwickelt sich die Sicht auf den eigenen Tod und die Bitte, durch das Mitleiden mit dem sterbenden Jesus Mitleid in der eigenen Todesstunde zu finden. Der Bogen spannt sich also von einer Darstellung von Vergangenem (stabat…videbat…) zu einer dialogischen Auseinandersetzung mit Maria und ihrem Schmerz und weiter zum Mitleiden mit Jesus und der daraus erhofften zukünftigen Gnade in der eigenen Todesstunde. Diese Spannung von Vergangenheit zur Gegenwart des Sprechers mit Ausblick auf die Zukunft ist ein Charakteristikum, das sich in vielen eindrucksvollen Gedichten finden lässt.
Weiters lohnt sich ein näherer Blick auf die Verwendung der grammatikalischen Personen: die ersten vier Verse stellen die Situation in der dritten Person dar, quasi als Kameraeinstellung in Totale. In der vierten Strophe schaut die Kamera quasi über Marias Schulter. Ab der fünften Strophe ist das Gedicht dialogisch: ein Sprecher (der Dichter, sein literarisches Ich oder…) redet Maria an, tritt quasi Maria gegenüber. Es entsteht eine Dreieckssituation: der Sprecher und Maria mit Blick hinauf aufs Kreuz.
Was kann dieses literarische Ich? Sehr viel. Es lässt uns nämlich Platz für Identifikation. Jede/r kann praktisch an diesen Platz treten und mit Maria sprechen. Es ist immer interessant zu überlegen, für wen ein Personalpronomen als Platzhalter steht. Hier ist das Du klar definiert, das Ich lässt Möglichkeiten offen.
Für Lateinfreaks: man beachte die Verwendung des Imperfekts (stabat, pendebat, maerebat, dolebat, tremebat, videbat) als Zustandsbeschreibungen, mit denen die Ausangssituaion beschrieben wird im Gegensatz zum scharfen, wahrhaft durchdringenen Perfekt pertransivit.
Ein kurzer Blick auf verwendete Stilmittel:
Am auffälligsten ist wohl das anaphorisch gebrauchte ‚fac‘. Der Dichter arbeitet auch mit verschiedenen klanglichen Mitteln wie Alliterationen und weiteren Anaphern (Quis, vidit), Trikola (gementem, contristatam, dolentem; maerebat, dolebat, tremebat), Gegensatzpaaren wie afflicta – benedicta und Binnenreimen wie tam dignati pro me pati. Virgo virginum - Jungfrau der Jungfrauen als Anrede für Maria ist ein gebräuchlicher Hebraismus des christlichen Latein wie per saecula saeculorum.
Den Höhepunkt und Schluss findet das Gedicht dann im Ausblick auf das Jüngste Gericht (in die iudicii) und auf die Hoffnung auf Gnade im Tod und das Paradies. In der liturgisch verwendeten Version wird hier schließlich Christus selbst angesprochen.
Der Text
1.Stabat mater dolorosa
Iuxta crucem lacrimosa
Dum pendebat filius.
Cuius animam gementem
Contristatam et dolentem
Pertransivit gladius.
2.O quam tristis et afflicta
Fuit illa benedicta
Mater unigeniti,
Quae maerebat et dolebat
Et tremebat, dum videbat
Nati poenas incliti.
3.Quis est homo, qui non fleret,
Matrem Christi si videret
In tanto supplicio?
Quis non posset contristari,
Christi matrem contemplari
Dolentem cum filio?
4.Pro peccatis suae gentis
Vidit Iesum in tormentis
Et flagellis subditum.
Vidit suum dulcem natum
Moriendo desolatum,
Dum emisit spiritum.
5.Pia mater, fons amoris,
Me sentire vim doloris,
Fac, ut tecum lugeam!
Fac, ut ardeat cor meum
In amando Christum deum,
Et sibi complaceam!
6.Sancta mater, istud agas,
Crucifixi fige plagas
Cordi meo valide!
Tui nati vulnerati
Tam dignati pro me pati,
Poenas mecum divide!
7.Fac me vere tecum flere,
Crucifixo condolere,
Donec ego vixero.
Iuxta crucem tecum stare
Et mi tibi sociare
In planctu desidero.
8.Virgo virginum praeclara,
Mihi non iam sis amara,
Fac me tecum plangere!
Fac ut portem Christi mortem,
Passionis fac consortem
Et plagas recolere!
9.Fac me plagis vulnerari,
Cruce fac inebriari
Et cruore filii!
Inflammatus et accensus,
Per te, virgo, sim defensus
In die iudicii!
10.Fac me cruce custodiri,
Morte Christi praemuniri,
Confoveri gratia.
Quando corpus morietur,
Fac, ut animae donetur
Paradisi gloria!
1.Es stand die Schmerzensmutter
weinend neben dem Kreuz,
als ihr Sohn dort hing.
Ihre stöhnende Seele,
traurig und schmerzerfüllt,
durchbohrte ein Schwert.
2.Oh wie traurig und getroffen
war die begnadete
Mutter des Eingeborenen.
Sie trauerte voll Schmerzen
und zitterte, als sie die Qualen ihres berühmten Sohnes sah.
3.Wer ist so ein Mensch, dass er nicht weinen möchte, wenn er die Mutter Christi in derartiger Qual sähe.
Wer könnte nicht traurig werden
beim Anblick der Mutter,
die mit ihrem Sohn leidet.
4.Für die Sünden ihres Volkes
sah sie Jesus in Qualen
und Schlägen ausgesetzt.
Sie sah ihren lieben Sohn
verlassen im Sterben,
während er den Geist aufgab.
5.Gütige Mutter, Quelle der Liebe,
mach, dass ich die Kraft des Schmerzes spüre, mach, dass ich mit dir trauere.
Mach, dass mein Herz brennt
in der Liebe zu Christus, meinem Gott,
und dass ich ihm wohlgefalle.
6.Heilige Mutter, bewirke das,
lege die Schläge des Gekreuzigten
wirksam in mein Herz.
Deines verwundeten Sohnes Pein,
die er für mich in seiner Gnade erlitten hat, teile mit mir.
7.Lass mich wahrhaft mit dir weinen,
mit dem Gekreuzigten mitleiden,
solange ich lebe.
Unter dem Kreuz mit dir stehen
und mich dir anschließen
in der Trauer möchte ich.
8.Ruhmreiche Jungfrau der Jungfauen,
sei mir nicht bitter,
lass mich mit dir trauern.
Mach, dass ich Christi Tod mit (dir) trage,
mach mich zum Geführten des Leidens
und dass ich die Schläge nachempfinde.
9.Mach, dass ich durch die Schläge verletzt werde, dass ich vom Kreuz trunken werde
und vom Blut des Sohnes.
Entzündet und entflammt,
möchte ich von dir, Jungfrau, verteidigt sein am Tage des Gerichts.
10.Mach, dass ich vom Kreuz bewacht werde, vom Tod Christi beschützt und
durch die Gnade unterstützt werde.
Wenn der Leib stirbt,
mach, dass der Seele
der Glanz des Paradieses zuteil wird.
Ich habe in meiner Übersetzung versucht, möglichst nahe am Text zu bleiben, damit er gut nachvollziehbar ist. Gereimte Übersetzungen gehen oft stark davon ab. Die obige Textversion ist die in Pergolesis Stabat Mater verwendete.
Bildnachweise:
Kreuzigungsgruppe aus der Pfarrkirche in Höflein bei Bruck/Leitha
barocke Pietà aus der Pfarrkirche in Wildungsmauer
Maria mit dem Schwert: Kloster Michelbeuren in Salzburg
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