Thema Zeitzeugen: memoria und saeculum
Aus Anlassfall ein paar Gedanken zu den beiden oben genannten Begriffen.
Der Anlassfall: Österreichs Iden des März:
Hitlers umjubelte Rede am Heldenplatz vor genau 80 Jahren. Ich bin glücklich, dass die Medien übervoll von der Erinnerung an dieses Ereignis sind. Ich kann mich an keinen Jahrestag erinnern, an dem das so ausführlich behandelt wurde. Nicht einmal an den 50. vor dreißig Jahren. Da war ich immerhin auch bereits ein erwachsener Mensch und schon einige Zeit im Schuldienst. Ich kann mich weder an besondere Sendungen erinnern noch an etwas, das ich damals speziell im Unterricht gemacht hätte.
Zeitzeugen
Ich kann mich aber sehr wohl an einiges erinnern, das damals passierte: es war an meiner Schule absolutes Standardprogramm, dass unsere 7. Klassen nach Mauthausen fuhren. Und es gab noch den Herrn Leopold Kuhn, ‚unseren‘ Zeitzeugen, einen der Überlebenden von Mauthausen, der es sich zur Aufgabe gemacht hatte, sein schreckliches Erleben als Warnung an nachfolgende Generationen weiterzugeben. Er war kein Jude, sondern Kommunist gewesen, erzählte, er sei schon im Ständestaat deswegen im Gefängnis gewesen, allerdings unter deutlich harmloseren Bedingungen. Das KZ Mauthausen überlebte er nur, weil er die Identität eines Toten annehmen konnte. Einmal war er mit einem jüdischen Freund bei uns. Ich sehe die beiden noch lebhaft vor mir. Bei seinem letzten Besuch bei uns sagte er, es seien nur mehr vier seiner ehemaligen Leidensgefährten, die in Schulen gehen konnten. Er wurde über 90 Jahre und ich habe die Begegnung mit ihm und die Dinge, die er erzählte, oft und oft meinen SchülerInnen gegenüber erwähnt. Sie sollten zumindest den indirekten Eindruck bekommen.
Die SchülerInnen und die Nazizeit
Meine Kinder, die in den 90-iger Jahren ins Gymnasium gingen, fanden manchmal die Auseinandersetzung mit der NS-Zeit, die man ihnen in der Schule angedeihen ließ, etwas üppig. ‚Schindlers Liste‘ kam 1993 heraus und es wurden extra Kinovorstellungen für Schülergruppen in der Unterrichtszeit angeboten, die wir natürlich nützten.
In den letzten Jahren ist mir aufgefallen, wie still es um dieses Thema geworden ist. Wie fremd es vor allem den SchülerInnen, besonders meinen, geworden ist. Es schien mir, als könnte man genauso über den 3. Punischen Krieg reden. In meinen Englischunterricht habe ich den ‚Dritten Mann‘ als Fixum eingebaut, um einen Bezug zum Wien der Nachkriegszeit und davor herzustellen. Es waren nicht nur die Ruinen der Stadt, die meinen SchülerInnen fremd waren. Die Not der Nachkriegszeit, die zerbombten Häuser, der Schwarzmarkt – Dinge, die ich nur zu gut aus den Erzählungen meiner Eltern und Großeltern kannte (einer meiner Großväter kam in den Bomben ums Leben, meine anderen Großeltern wurden ausgebombt) schienen selbst SchülerInnen, die aus den Kriegsgebieten der letzten Zeit kamen, sehr weit weg.
Memoria wird Geschichte
Zu meinem Schrecken stellte ich fest, dass der Zweite Weltkrieg und die Nachkriegszeit für diese jungen Leute Geschichte geworden ist. Und fühlte mich verantwortlich, mit dem, was für mich in der Familie erfahrene Geschichte war, ein bisschen Beziehung herzustellen. Denn vielstellige Zahlen und Fakten rühren Menschen weniger als das persönliche Schicksal einzelner Menschen, besondern wenn es einen nachvollziehbaren Kontakt zu ihnen gibt.
‚Österreich ist frei‘. Leopold Figl mit dem Staatsvertrag auf dem Balkon des Belvedere. Worte und Bilder, die mich, die ich immer stolz war, schon ins freie Österreich hineingeboren zu sein, immer bewegen. Meinen SchülerInnen entlockten sie bestenfalls ein müdes ‚Aha‘.
Memoria und saeculum
So wird aus memoria Geschichte. Wenn man niemanden mehr fragen kann. Noch gibt es meine 90-jährige Mutter, die sagen kann, wie das war mit den Bombenangriffen. Die es ihren Enkeln und mittlerweile auch Urenkeln erzählen kann. Doch allzu viel Zeit haben wir nicht mehr, bis das saeculum beendet ist und es niemanden mehr gibt, der es persönlich erlebt hat.
Was ist also so ein saeculum? Gemeinhin wird es als ‚Jahrhundert‘ übersetzt. Das hat einen guten Grund. Es ist mehr oder weniger die Länge eines langen Menschenlebens, bis der letzte einer Generation gestorben ist. Bis man niemanden mehr fragen kann. Das ist und war – auch wenn die durchschnittliche Lebenserwartung früherer Zeiten viel niedriger war – die längste Spanne, die Menschen leben. Es gab allerdings früher nur sehr wenige, die ein solches Alter erreichten. Wenn wir von Römern und Alter sprechen, denken wir vielleicht an den alten Cato, der in hohem Alter noch Griechisch gelernt und einen Sohn gezeugt haben soll. Der Überlieferung nach erreichten zwei der wichtigsten Personen um Cicero ein Alter von hundert Jahren: seine Frau Terentia soll 102 geworden sein, sein Sekretär Tiro knapp 100.
Zeit und Ewigkeit
Leuten meiner Generation und älteren, die noch mit den lateinischen Messtexten vertraut sind, fällt hier sicher die Phrase per omnia saecula saeculorum ein, die auf Deutsch mit ‚von Ewigkeit zu Ewigkeit‘ oder ‚in Ewigkeit‘ wiedergegeben wird. Saecula saeculorum, wörtlich ‚Jahrhunderte der Jahrhunderte‘ oder vielleicht besser ‚Menschenalter der Menschenalter‘, ist ein Hebraismus, also eine Form, die aus dem Hebräischen kommt und uns in Phrasen wie ‚Jungfrau der Jungfrauen‘ für Maria oder ‚Buch der Bücher‘ für die Bibel geläufig ist.
In den Acta Sancti Maximiliani sagt der junge Maximilian, der den Wehrdienst verweigert: „Non possum saeculo militare. – Ich kann nicht der Welt, dem Diesseits als Soldat dienen.“ Hier hat das Wort saeculum bereits seine christliche Bedeutung als Zeitlichkeit, Welt, irdisches Leben, mit der es sich zu säkular/säkularisieren und secular im Englischen entwickelt hat, was ‚profan (machen)‘, im Gegensatz zu ‚heilig' bedeutet.
Die Evangelien und die memoria
Ein kleiner gedanklicher Nachtrag zu memoria: die Entstehungszeit der Evangelien. Sie wurden zwischen 70 und 100 nach Christus aufgezeichnet. Nach meinen eigenen Erfahrungen mit der memoria könnte ich mir sehr gut vorstellen, dass sie dann aufgezeichnet wurden, als dieses saeculum Iesu Christi zu Ende ging und die memoria sich immer mehr ausdünnte, es also immer weniger Menschen gab, die Jesus direkt begegnet waren oder in deren Familien die Erfahrung mit Jesus lebendig war, weil man mit jemandem gesprochen hatte, der ihn und die Ereignisse um ihn erlebt hatte.
Wir dürften nicht vergessen, dass die Gesellschaft des ersten nachchristlichen Jahrhunderts sehr viel mehr auf mündliche Kommunikation in jeder Form angewiesen war, weil schriftliche Fixierung und Zugang zu Schriftlichem deutlich schwieriger waren, als wir uns das vorstellen können. Das mag auch der Grund dafür sein, dass man auf wortwörtliche Wiedergabe weniger Wert legte als wir das tun. Doch irgendwann in dieser memoria Iesu Christi schien es offenbar unumgänglich einer bestimmten Gruppe, seien das nun Judenchristen oder Heidenchristen, die Botschaft schriftlich anzuvertrauen,
DAMIT ES NICHT VERLOREN GEHT.
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